Exkurs: Begriffsrelativierung

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Erörtern Sie vor dem Hintergrund der Lektüre des untenstehenden Ausschnitts aus "Schlamm und Brei und Bits. Warum es die Digitalisierung nicht gibt" von Kathrin Passig und Aleks Scholz, ob es sich bei der Filmrolle um ein digitales oder ein analoges Medium handelt.

„Man nehme einen Esslöffel Schlamm und zerteile ihn immer weiter. Wenn man das nur konsequent und mit dem richtigen Werkzeug macht, liegen irgendwann Moleküle auf dem Küchentisch. Zerteilt man diese weiter, landet man bei Atomen, dann bei Protonen, Neutronen, Elektronen. Sind das die kleinsten Einheiten der Welt? Aber wenn man Materie so weit zerteilt, dass nur noch Elementarteilchen übrig sind, benimmt sie sich nicht mehr so, wie man es aus dem Küchenalltag gewohnt ist. Quanten verhalten sich entweder wie Teilchen oder wie Wellen, je nach der Art des Experiments, das man mit ihnen durchführt, eine der großen Absonderlichkeiten der Quantenmechanik. Die Frage, ob Materie digital oder analog ist, sieht aus der Ferne betrachtet aus wie der Welle-Teilchen-Dualismus, Wellen sind analog, Teilchen digital. Ist Materie analog oder digital? Es kommt ganz darauf an. Aber damit endet das Problem noch lange nicht. Materie existiert in Raum und Zeit. Kann man Raum und Zeit in Scheibchen zerlegen? Ist die Schwerkraft digital oder analog? Was ist mit dem Vakuum? Was ist das Fundament der physikalischen Realität? Von John Archibald Wheeler stammt die im Jahr 1990 formulierte »It from Bit«-Doktrin, die viele nachfolgende Theorien beeinflusste. »It from Bit« bedeutet, dass die Welt ultimativ auf digitalen Informationen beruht. Das Universum als gigantischer Computer, eine Idee, die heute unter theoretischen Physikern recht beliebt ist. Der Ursprung jedes Elementarteilchens, je- der physikalischen Interaktion, ist möglicherweise, tief unten im Motorraum des Universums, eine Ja-oder-Nein-Frage, ein Bit Information, eine Eins oder eine Null. Kontinuität wäre in diesem Konzept eine Illusion. Von einer experimentellen Verifizierung dieser oder ähnlicher Theorien sind die Physiker jedoch einigermaßen weit entfernt. Völlig unabhängig davon, was dabei am Ende herauskommt – für die alltägliche Welt mit ihren Schallplatten, Tachometern, Nervenzellen und Stromzählern wird die Antwort wohl keine Rolle spielen. Unsere Umgebung ist weder digital noch analog. Beide Begriffe sind Idealisierungen der Realität, genau wie die Idee, man könnte eine auf Papier gemalte Linie in unendlich viele Stücke zerschneiden. Analoges und Digitales existiert in Menschen und Geräten gleichzeitig, je nach- dem, wie genau man auf welcher Ebene hinschaut. Es sind abstrakte Idealkonzepte. Der Unterschied zwischen den beiden Formen ist bei der Beschreibung aktueller Veränderungen der Welt hilfreich, in etwa so hilfreich wie die zwischen chemischen und physikalischen Vorgängen oder zwischen Welle und Teilchen. Aber es gibt keine scharfe Trennlinie. Die sauberen Kategorien digital und analog sind Menschenwerk. Man wird sich die Mühe machen müssen, genau zu sagen, was man mit »Digitalisierung« eigentlich meint, auch wenn man deshalb zwei Tweets statt nur einen benötigt.“

 AUS: MERKUR 69 (798), 2015, S. 80F.