Der Einfluss emotionaler Erfahrungen
Manchmal reagieren wir in bestimmten Situationen emotional stärker, als es die Situation auf den ersten Blick vermuten lässt. Das allgemeine Emotionsmodell von Bohus und Wolf-Arehult (2013) hilft uns zu verstehen, warum das so ist: Unsere Gefühle im Hier und Jetzt sind oft auch von früheren Erfahrungen geprägt. Alte Erlebnisse können sich unbewusst in neue Situationen einschalten – und beeinflussen, wie wir heute fühlen und reagieren.
Diese Grafik, in Anlehnung an Bohus und Wolf-Arehult (2013), verdeutlicht uns wesentliche Aspekte, die bei der Emotionsverarbeitung eine Rolle spielen:
Emotionale
Verwundbarkeit
Aktuelle
Situation
Vergangene emotionale
Erfahrungen
Handlungen/Reaktionen - Konsequenzen
1. Emotionale Verwundbarkeit
Unsere innere Verfassung beeinflusst, wie stark wir auf äußere Reize reagieren. Bin ich z. B. müde, überfordert oder gestresst, bin ich emotional leichter aus dem Gleichgewicht zu bringen. Diese „Verwundbarkeit“ ist oft nicht bewusst, wirkt aber im Hintergrund mit – wie eine Art Verstärker.
2. Aktuelle Situation
Hier geht es um das, was im Moment tatsächlich passiert. Zum Beispiel: Eine digitale Technik funktioniert nicht. Wie wir diese Situation wahrnehmen, was wir denken und fühlen, und ob wir handlungsbereit oder gelähmt reagieren – all das formt unsere akute emotionale Reaktion.
3. Vergangene emotionale Erfahrungen
Frühere Erlebnisse, vor allem emotional prägende, wirken oft unbewusst in neue Situationen hinein. Wenn wir früher z. B. für Fehler beschämt wurden, kann eine heutige Panne ähnliche Gefühle auslösen – selbst wenn niemand etwas Negatives sagt. Alte Muster (wie Scham, Selbstzweifel oder Rückzug) werden reaktiviert, obwohl die aktuelle Situation vielleicht gar nicht bedrohlich ist.
Alle drei Bereiche – unsere momentane Verfassung, die aktuelle Situation und unsere emotionalen Vorerfahrungen – beeinflussen, wie wir handeln oder reagieren. Daraus ergeben sich konkrete Konsequenzen: Ziehe ich mich zurück? Werde ich wütend? Oder bleibe ich ruhig und handlungsfähig?
Diese Rückwirkungen fließen wiederum in die emotionale Verfassung ein – und beeinflussen zukünftige Situationen. Deshalb ist es so hilfreich, sich diesen Kreislauf bewusst zu machen: Nicht jede starke Emotion gehört zwingend zur Gegenwart. Manchmal gehört sie zur Vergangenheit.
In solchen Situationen ist es nicht das Ziel, diese Gefühle zu unterdrücken, sondern sie bewusst zu hinterfragen: „Passt mein Gefühl wirklich zur Situation – oder kommt es vielleicht aus der Vergangenheit?
Ein Beispiel:
Norbert soll im Unterricht ein neues digitales Tool einsetzen. Doch es funktioniert nicht – und Norbert fühlt sich sofort gestresst und überfordert. Obwohl niemand ihm einen Vorwurf macht, hat er das Gefühl: „Ich bin einfach nicht gut genug dafür.“ Warum ist das so?
Vor vielen Jahren, während seiner Lehrprobe im Referendariat, hatte Norbert eine ähnliche Situation: Ein technisches Gerät funktionierte nicht – und seine Seminarlehrkraft kritisierte ihn damals scharf: „Als Lehrperson ist es wichtig, die Technik im Griff zu haben.“ Damals fühlte Norbert sich inkompetent und beschämt. Dieses alte Gefühl wird heute wieder aktiviert, obwohl die Situation eigentlich ganz harmlos ist.
Statt sich mit dem Tool auseinanderzusetzen, zieht sich Norbert zurück – nicht, weil er es nicht schaffen würde, sondern weil ein veraltetes Gefühl ihn daran hindert.
Wann wird eine Emotion zum Problem?
In der Regel erleben wir Emotionen als berechtigt. Wir tendieren daher dazu der Emotion zu „glauben“ und entsprechend zu handeln. Wie wir nun aber gesehen haben, muss das nicht immer zutreffend sein. Manchmal täusche uns unsere Emotionen in Form von automatisierten und erlernten Reaktionen auch, wenn vergangene Erfahrungen die Wahrnehmung der aktuellen Situation verzerren. Denken wir z.B. nochmal an Norbert im obigen Beispiel. Ihm gelingt es aktuell nicht, das neue digitale Tool erfolgreich im Unterricht einzusetzen, weshalb er sich inkompetent fühlt. Er hat die Handlungstendenz, es sein zu lassen (Vermeidung) und hofft, dass die Schulleitung das nicht erfährt.
Während manche dieser erlernten Reaktionen sinnvoll und hilfreich sind, sind es andere Reaktionen überhaupt nicht.
Insgesamt gibt es drei Möglichkeiten, in denen eine Emotion zum Problem werden kann:
1.) Die Emotion ist nicht angemessen, d.h. sie entspricht nicht den üblichen Kontext, in welchem diese Emotion normalerweise entsteht.
Norbert fühlt sich frustriert und überfordert, obwohl die digitale Lernplattform, die er nutzen soll, mit ein bisschen Übung tatsächlich einfach zu bedienen ist und gut funktioniert und er durchaus dazu im Stande wäre. Seine Frustration beruht auf seinen Erfahrungen und der damit verbundenen Angst vor der Technik. In der Anwendung ist das digitale Tool jedoch sehr benutzerfreundlich und schnell und unkompliziert einsetzbar. Seine Emotion entspricht folglich nicht den realen Bedingungen und ist daher nicht wirklich der Situation angemessen.
2.) Die Emotion ist zwar angemessen, entspricht also den realen Gegebenheiten, ist aber zu intensiv.
Norbert erlebt technische Probleme während einer Online-Unterrichtsstunde (z.B. die Internetverbindung bricht ständig ab). Diese technischen Störungen sind ein realistisches Problem, es kann jedem passieren und er kann auch nichts dagegen tun, aber er reagiert mit übermäßiger Wut und Stress, der die Situation eskalieren lässt, anstatt ruhig nach einer Lösung für die Stunde zu suchen.
3.) Die Emotion ist zwar angemessen, entspricht also den realen Gegebenheiten, ist aber zu intensiv.
Norbert fühlt sich unsicher und ängstlich bei der Nutzung von digitalen Prüfungsformaten, was durchaus angemessen zu sein scheint ist, da er wenig Erfahrung mit dieser Methode hat. Allerdings wehrt er sich dagegen, Hilfe in Anspruch zu nehmen oder sich weiterzubilden, um die Technik besser zu verstehen und die Prüfungen sicher und effektiv durchführen zu können.
Übung: Um das Auftreten und die Intensität einer Emotion in einer bestimmten Situation besser zu verstehen, ist es wichtig, sowohl die aktuelle Situation zu analysieren als auch Verbindungen zu vergangenen Erfahrungen zu erkennen. In Ihrer ersten Übung haben Sie sich bereits an eine Situation erinnert, in der Sie als Lehrkraft mit digitalen Medien gearbeitet haben. Nehmen Sie Ihre Notizen dazu erneut zur Hand und ergänzen Sie diese.
- Identifizieren Sie den Auslöser: Was hat Ihre Emotion(en) in dieser Situation hervorgerufen?
- Automatische Gedanken: Welche Gedanken/Glaubenssätze kamen Ihnen direkt in den Sinn?
- Verbindung zur Vergangenheit: Welche früheren Erlebnisse haben Ihre Emotion(en) verstärkt? Welche Erinnerungen sind Ihnen in den Sinn gekommen?
- Reaktion und Handlungsimpuls: Wie haben Sie darauf reagiert? Gab es alternative Handlungsmöglichkeiten, die Sie hätten wählen können?
Nehmen Sie sich Zeit für diese Reflexion, um ein tieferes Verständnis für Ihre emotionalen Prozesse zu erlangen.